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Bildung und Kultur – Learning from Culture

Dokumentation Politik / Citizenship


Politik Citizenship 12-2020

Vernunft oder Unvernunft in Corona-Zeiten

 

(H.C.) Die Geschichte der Pestepidemien vom 1300 bis zum 1900 Jahrhundert zeigt, dass Menschen das ihrem Verstehen gemäß Richtige tun wollten, um sich und andere zu schützen oder ihre eigenen Interessen auch in angespannten Lagen durchzusetzen. Ihre Sicht der Wirklichkeit bestimmt die Mittel ihres Tuns. „Rationalität ist ein historischer Begriff“ schrieb der Soziologe Max Weber, und die Wissenschaft bleibe stets auf jenes Bild der Wirklichkeit angewiesen, das vom weiterziehenden „Licht der Kulturprobleme“ einer Zeit geprägt ist. Ist unser „rationaler“ Umgang mit Krisen und Pandemien rationaler als das Verhalten unserer Vorfahren? Und ist es auch „vernünftiger“?

 

I. Vernünftig ist, wer Grenzen und Ziele kennt

Vernünftig ist, wer sich die Grenzen seines eigenen Verstandes zu Herzen nimmt. Vernünftige verwechseln ihre Einsicht, ihr Fachkönnen, ihre Zeit nicht mit der ganzen Wirklichkeit. Die Vernunft verlangt eben nicht nur Faktenwissen, sondern zweitens auch eine Ahnung und Vorsicht vor den Nebenfolgen, die ich riskiere. Deshalb muss eine kluge Regierung eine breite Vielzahl von zuverlässigen Experten befragen. Drittens und vor allem verlangt die Vernunft meine Rechenschaft über die letzten Ziele, die ich verfolge. Der Volksmund unterscheidet deshalb zu Recht einerseits zwischen dem maßvollen „gescheiten“ Menschen und andererseits den „Studierten“, „Intelligenten“ oder „Übergescheiten“, die für alles einen scheinbar unwiderleglichen Beweis haben. Sie haben für alles angeblich rationale Mittel, haben aber Sinn und Maß des Ganzen aus den Augen verloren. Ist das ein Schicksal unserer Zivilisation, für alles Mittel zu haben, aber im Widerstreit gegensätzlicher Ziele, Ideologien und Wahnideen unterzugehen?

Vernehmen der Vernunft

Die Vernunft setzt den Glauben an Wahrheit voraus: Wahrheit in den kleinsten Zusammenhängen des Lebens bis hin zur großen Wahrheit über eine letztlich sinnvolle Welt. Ohne sinnvolle Welt gibt es keinen rationalen Grund, der Menschheit über den eigenen Tod hinaus noch eine Lebenswelt zu bewahren oder die Schwächeren vor den Interessen der Stärkeren zu schützen. Wer Vernunft sucht, setzt – bewusst oder nicht – eine stofflich, geistig und ethisch vernünftig gerichtete Welt voraus.

Wer an Vernunft glaubt, sagt: Eine gute Ordnung, eine gläubig vernehmbare Wahrheit liegen schon vor uns und außer uns. Ohne sie bleiben alle persönlichen und politischen Ziele zufällig, dem Spiel der Moden, Meinungen, Mächte und Notwendigkeiten unterworfen. Max Weber warnte: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“ Der europäische Verlust des Glaubens an das einende Wort, den einen Gott, die eine Sinndeutung schien ihm zwar damals unumkehrbar, aber er mahnte, dass nur die persönliche und politische Wahrhaftigkeit, die Selbstkritik, die Nüchternheit uns vor den chaotischen Folgen bewahren könnten.

Selbstkritik

Die Grenze des eignen Wissens beherzigen setzt darum selbstkritische Demut voraus. Mit den großen Wahrheiten der Welt tun wir uns schwer, aber gegen uns selbst könnten wir wahrhaftig sein. Die Vernunft hat zuerst und zutiefst mit der Fähigkeit, Bereitschaft und Einübung von Wahrheit gegenüber sich selbst zu tun. Was diese Einschätzung angeht, unterscheiden sich auch die traditionelle Philosophie und die biblische Weisheitslehre nicht von der Meinung des großen Soziologen.


II. Arten der Vernunft

Die Vernunft verlangt in unterschiedlichen Zeiten und Herausforderungen von Menschen verschiedene Reaktionen. Vernunft kommt in vielen Anwendungen vor, die, je nach Situation, zu einander in Spannung treten können: bürgerliche Vernunft, demokratisch-parlamentarische Vernunft, Führungsqualität auf allen politischen und ökonomischen Ebenen, öffentliche und private Vernunft, kollektive und persönliche Vernunft, theoretische und praktische Vernunft.

Bürgerliche Vernunft in Krisenzeiten

Der Bürger ist aus Vernunft gesetzestreu. Sogar schlecht begründete Gesetze und Maßnahmen verpflichten ihn. Wer der Ansicht ist, dass der schwedische Umgang mit der Covid-19-Krise vernünftiger, sachlich begründeter und erfolgreicher ist, wird trotzdem als Bürger seiner Regierung nicht durch Ungehorsam in den Rücken fallen. Ein Land wird in der Krise nicht immer den besten Weg finden. Wenn es aber uneinig handelt, verliert es neben der Effizienz auch noch den inneren Frieden.

Das geschichtliche Beispiel hierfür ist Sokrates. Als Sokrates zu Unrecht zum Tode verurteilt wird, schlägt er die Möglichkeit der Flucht aus und trinkt den Schierlingsbecher mit folgender Begründung: Die Gesetze seien ihm Vater und Mutter, hätten ihn großgezogen und sein Leben als Bürger der Stadt ermöglicht. Auch der Preis seines Lebens berechtige ihn in keiner Weise, sich dem gültigen Spruch des Gerichts zu entziehen. Er würde sonst zum Aufrührer gegen die Grundfesten, gegen die Berechtigung des Rechts selber werden. Damit stellt er sogar das formale Recht der Stadt noch über das inhaltliche Fehlurteil.

Vernunft der demokratischen Öffentlichkeit

Die Vernunft der parlamentarischen Demokratie verlangt dagegen etwas scheinbar Entgegengesetztes: nämlich dass rechtzeitig vor Beschlussfassung alle Stimmen und maßgeblichen Argumente gehört, gewichtet und in gegenseitiger Achtung abgewogen werden. Medien und Parteien sollten zu einem möglichst offenen und respektvollen Diskurs vor, während und nach den Entscheidungen beitragen.

Die liberalen Verteidiger des Parlamentarismus glaubten im 19. Jahrhundert an den Wert der Wahrheit. Einer allein könne gar nicht alle wichtigen Aspekte zur Lösung beibringen. Aber durch ehrliche und inhaltlich harte Diskussion wollten sie die in Wahrheit beste Lösung für das Land finden.

Unvernunft der medialen Öffentlichkeit

Stattdessen hat die Corona-Krise seit März 2020 ein viel hässlicheres Bild einer undemokratischen Öffentlichkeit offenbart. In Schweden trauen sich wenige Bürger noch öffentlich, den Kurs der Regierung zu kritisieren und den Kurs der anderen Länder zu empfehlen. Ihre Vernunft wird angezweifelt. In Deutschland und dem Rest Europas ist es umgekehrt: Es gibt seit März offenbar nur noch Erleuchtete unter den Lockdown-Befürwortern, denen in den sozialen Medien und auf der Straße ein Riesenschwarm von angeblich Verführten, „Covidioten“, „Coronaleugnern“ u.ä. gegenüber stünden. Bei der Verabschiedung des „Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung ...“ am 18. November 2020 betonte abschließend der hessische Ministerpräsident Bouffier, solche Gesetzte seien stets Ergebnis vielfältig demokratisch abgewogener Kompromisse – um im gleichen Atemzug die opponierenden Bürger auf der Straße grinsend als „Aluhutträger“ zu diffamieren.


III. Politik: Spaltung, Angst, Verführung – Chancen?

In Schweden und Deutschland ereignet sich also dasselbe – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die unterlegene Meinung hat mit Ächtung, Häme  und öffentlich-rechtlichem shitstorm zu rechnen. Es herrscht die Logik des Wolfsrudels: Wer abseits läuft, wird weg- oder totgebissen. So arbeiten Parteivertreter und Medienkommentatoren an der inneren Spaltung des Landes anstatt am Respekt für den Anderen. Geächtete kann man vielleicht zum Mitlaufen zwingen, aber nicht für den demokratischen Weg gewinnen.

Angst statt Vernunft

Das Pressegeschäft ist es nun einmal, durch polarisierende Titel Klickzahlen zu fördern, durch Weglassung Neugier und Angst zu erzeugen, durch Bilder die Phantasie zu berauschen, Meinungen vor oder anstatt Fakten zu verabreichen. Polarisierung und Emotionen machen Umsatz. Vor allem gilt es, die zwischen den Pressehäusern und Redaktionen heute relativ einhellige politische Grundrichtung zu fördern. Das alles ist ausreichend wissenschaftlich erforscht und man wusste es schon vor Covid-19.

Verführung statt Vernunft

Das Schreckliche: Einfache Bürger folgen diesem Muster, schlagen sich zur einen oder zur anderen mentalen Bürgerkriegspartei. Was bringt liebenswürdige Menschen dazu, ihrem Nachbarn den Verstand abzusprechen anstatt mit ihnen gemeinsam die Zahlen und Fakten zu sichten? Wie immer ist es die Angst – um die bürgerlichen Rechte, um die Gesundheit, das Leben, den Wohlstand, das Sicherheitsgefühl, Freunde zu verlieren, nicht dazu zu gehören, wenn die Meinung abweicht.

Korrekte Experten

Erfreulicherweise verhalten sich etliche Experten – Virologen und andere – in Deutschland respektvoller zu einander. Die – trotz gegensätzlicher Meinungen – von ihnen zur Verfügung gestellten Zahlen sind zumindest vollständiger als die der Öffentlichen Anstalten, die seit Februar 2020  bis heute täglich zum Frühstück Zahlen ohne Referenzgrundlage in den Äther schießen.
Wenn im Oktober 2020 ausgehend von der Stanford University (USA) und weltweit über 50 000 Medizinsachverständige und Medizinforscher die „Great Barrington Declaration“ (für den gezielten Schutz von Risikogruppen bei gleichzeitiger Erreichung der Herdenimmunität und gegen Lockdowns) unterzeichnen und möglicherweise gleich viele für einen entgegengesetzten Weg plädieren würden, sollten wir uns über einen solchen Austausch von Argumenten freuen. Jedenfalls sollte das eine demokratisch gesonnene Presse abwägende Berichte wert sein. Statt dessen herrscht in weiten Teilen des alten Europa dumpfe, konforme Parteilichkeit – meist im Sinne der jeweils regierungsamtlichen Argumentation.

Chance Corona-Krise

Ist die Krise auch eine große Chance? Ist der „Great Reset“, für den das TIME Magazine mit einer Sondernummer wirbt, wirklich die Chance, endlich linke antikapitalistische Ziele weltweit durchzusetzen? Als solche werden dort zumindest die Klimapolitik, die Digitalisierung und die Globalisierung angepriesen.
Oder ist es die Chance, nun das große Schreckgespenst des letzten Jahrzehnts in Wirtschaftskreisen, den gewaltigen, finalen Finanzcrash, im letzten Augenblick zu entschärfen, die Realwirtschaft geordnet herunter zu fahren, sie mit einer Kreditflut am Leben zu halten, bis sie endlich das Defizit an Zahlungsmitteln gegenüber den Weltfinanzmärkten aufgeholt hat? Dann könnte, wie sonst nach großen Finanz-Zusammenbrüchen, durch einen gleichgewichtigen Währungsschnitt die Finanzwelt neu geordnet werden. Aber welche der großen finanziellen Machtgruppen sollte sich mit ihrer Vorstellung bei der weltweiten digitalen Neugestaltung durchsetzen? Weitsichtige Politiker müssten uns und der Fachwelt solche Fragen beantworten können.

Wo bleibt die politische Vernunft?  

Die Beschlüsse einer legalen Regierung und Gesetze des legal gewählten Parlaments sind zu achten. Also folgen wir selbstkritisch, ohne unsere Meinung überzubewerten. Haben wir auch Presse und Politiker, die zum demokratischen Diskurs und zur Selbstkritik fähig sind? Ihr Verhalten gibt den Ausschlag dafür, ob die Bürger selbst dann gerne folgen, wenn sie eigentlich anderer Meinung wären.

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Sokrates Pest im Inntal Great Barrington Declaration The Great Reset